Sunday, May 26, 2013

Vielleicht kommt alles anders

(16.06.2012)


Jule steht am Fenster ihres Wohnzimmers. Sie bewohnt eine der Wohnungen im 10. Stock eines Hochhauses. Von dort aus kann sie weite Teile der Stadt überblicken. Es ist noch früh am Morgen und diese Stadt schläft noch. Sie dreht ihren Sessel ans Fenster, nimmt ihre Tasse Tee und setzt sich hin. 
Als sie so aus dem großen Fenster schaut, bleibt ihr Blick an einem anderen Hochhaus hängen. Sie dreht sich ganz nach links, damit sie es besser betrachten kann. Es ist nicht so hoch wie das in dem sie wohnt, es gehört auch schon zu der Hochhaussiedlung in der die Sozialwohnungen der Stadt zu finden sind. Jule vergleicht gedanklich das Hochhaus mit ihrem. Nicht vom Aussehen her, sie macht sich Gedanken über die Schicksale, die sich hinter den grauen Mauern verbergen könnten.
Sie stellt dich den dritten Stock vor. Vier Sozialwohnungen. In der einen Wohnung lebte eine junge Frau. Sie war gerade 22 Jahre alt geworden. Ihren Geburtstag hatte sie nicht feiern können, da sie ihn im Krankenhaus verbracht hatte. Kurz zuvor hatte sie ihr viertes Kind geboren. Wer genau der Vater des Kindes war wusste sie nicht. Neben ihrem damaligen Freund hatte sie sich noch mit drei anderen Männern ungeschützt vergnügt. Es war auch ein Wunder, dass das Jugendamt ihr nicht sämtliche Kinder wegnahm, wo doch bekannt war, dass die junge Mutter nachts gerne feiern ging und ihre Kinder alleine in der Wohnung zurück ließ. Von den zwei älteren Kindern sind die Väter bekannt, doch sie kümmern sich nicht. Das älteste Kind ist 8 Jahre alt. Vielleicht würden die Kinder sich später Fragen stellen, auf die Suche nach den verschiedenen Vätern gehen und ihr eigenes Leben auf die Beine stellen. Vielleicht würden sie die Schule beenden und eine Ausbildung anfangen, eine Zukunft aufbauen. Vielleicht würden sie sich ein Beispiel an ihrer Mutter nehmen. Keinen Schulabschluss, keine Ausbildung, Kinder in jungen Jahren und keine Verantwortung für sich oder andere übernehmen. Vielleicht würden sie sich auch noch herumtreiben und Straftaten begehen bevor sie alt genug wären um dafür bestraft zu werden. Vielleicht kommt auch alles anders.

In der anderen Wohnung lebt ein Mann mit einer Frau zusammen. Beide brachten Kinder in die Partnerschaft. Er hatte schon zwei aus erster Ehe, sie brachte noch drei mit hinzu. Nun war sie spät und unerwartet noch einmal schwanger geworden. Sie wusste, dass er keine weiteren Kinder mehr wollte und teilte es ihm erst mit, als es zu spät für eine Abtreibung war. Er hatte sich dennoch fürchterlich aufgeregt und das nicht wegen des Kindes, sondern wegen der Tatsache, dass sie in dem Zustand nicht weiter zu ihren Putzstellen gehen konnte. Sie würden nun mit weniger Geld für mehr Personen auskommen müssen. Als sie ihm seinen täglichen Alkoholkonsum vorwirft und ihm den Vorschlag unterbreitet, diesen einzustellen, rastet er aus und schlägt sie vor den Augen der Kinder zusammen. Auch an diesem Tag hatte er sich wieder bis zur Aggressivität volllaufen lassen. In einigen Jahren würden vielleicht alle sechs Kinder im Heim leben, der Mann im Gefängnis und die Frau in einem Frauenhaus, in der Hoffnung, dass sie ihr Leben auf die Reihe bekommt und zumindest ihre leiblichen Kinder wieder zu sich nehmen kann. Vielleicht hatte das Familienoberhaut sich auch zu Tode getrunken, oder seine Lebensgefährtin in einem solchen Zustand so stark verprügelt, dass sie an schweren Verletzungen starb. Vielleicht würde es auch viele Jahre gut gehen. Die Kinder halten den Mund und gehen zur Schule, machen später eine Ausbildung wenn sie es denn schaffen. Die Mutter erträgt die Schläge ihres Freundes und hält weiter an der Familie fest. Und der Mann trinkt wahrscheinlich bis an sein Lebensende. Vielleicht kommt auch alles anders.

In der dritten Wohnung leben zwei Geschwister. Das Mädchen ist nun 19 Jahre alt und kümmert sich um den 15-jährigen Bruder. Bei einem Autounfall kamen die Eltern ums Leben und die Kinder wurden in ein Heim gebracht. Man hatte sie jahrelang nicht gut behandelt und die ältere Schwester hatte gekämpft, damit sie ihren kleinen Bruder schon früher aus dem Heim holen konnte. Das Jugendamt kam wöchentlich vorbei und bei der kleinsten Kleinigkeit musste der Junge zurück ins gehasste Heim. Nun hatte er sich zum wiederholten Male beim Ladendiebstahl erwischen lassen und wurde von der Polizei nach Hause gebracht. Diesmal hatte er eine Anzeige kassiert und riskierte nun bei seiner Schwester ausziehen zu müssen. Vielleicht würde sie ihren Bruder wieder an das Heim verlieren. Vielleicht würde er aus Protest noch mehr stehlen und weitere Anzeigen bekommen. Vielleicht würde sie ihn auch vor die Tür setzen, wenn sie von der Anzeige erfuhr, und ihrem Frust dabei freien Lauf lassen; schließlich dankte er ihr ihre Fürsorge und den ganzen Kampf mit den Behörden indem er weitere Probleme nach Hause brachte. Vielleicht kommt auch alles anders.

In der letzten Wohnung lebt eine alte Dame. Sie hatte niemanden mehr. Ihr Mann starb schon vor 15 Jahren und ihre Kinder hatten sich auch schon eine Ewigkeit nicht mehr blicken lassen. Sie wusste, dass sie noch ein paar Enkel bekommen hatte, aber mehr als ein Foto hatte sie noch nie von ihnen gesehen. Sie hatte noch eine Katze bei sich in der Wohnung, die ihr das Gefühl gab, gebraucht zu werden, wodurch ihr Dasein für sie noch Sinn ergab. Sie war nicht mehr gut zu Fuß und die Nachbarn aus einem oberen Stockwerk brachten ihr Lebensmittel aus dem Supermarkt mit. Sie selbst hatte das Haus schon seit Wochen nicht mehr verlassen. In letzter Zeit fühlte sie sich eher schlecht und hatte Angst, bald nicht mehr alleine leben zu können. Von ihrer kleinen Rente konnte sie sich kein Pflegeheim leisten. Vielleicht würden die Nachbarn, die einen Zweitschlüssel besaßen, sie bald tot in der Wohnung auffinden. Vielleicht würde man sie verwahrlost, halb verhungert in einer total verdreckten Wohnung vorfinden und man würde ihre Kinder zwingen, sich um sie zu kümmern. Vielleicht kommt auch alles anders.

Jule schaut auf die Uhr. 'Es ist Zeit', denkt sie sich. "Vielleicht kommt alles anders", sagt sie, schüttelt den Kopf, steht auf und verlässt die Wohnung für einen weiteren Tag.


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